Was ist Begabung? Wann spricht man von Talent? Wir haben beim Experten nachgefragt.
Herr Dr. Grabner, rund um die Schule wird viel darüber gesprochen, dass das Erkennen von Talenten wichtig sei, um den Jugendlichen den Weg zur individuell passenden Bildungskarriere zu weisen. In welche groben Bereiche kann man Talente/Begabungen unterteilen?
In der Psychologie unterscheidet man zwischen Begabungen (Potenzial für bestimmte Leistungen) und Talenten (besondere Leistungen in einem Bereich). Talente sind somit bereits in einem gewissen Grad umgesetzte Begabungen. Die große Herausforderung ist das Erkennen der Potenziale, also der Begabungen. Diese werden in verschiedenen Begabungsmodellen folgendermaßen eingeteilt: Immer berücksichtigt ist die „intellektuelle“ Begabung, wie sie auch in Intelligenztests gemessen wird. Diese lässt sich in die sprachliche, die numerisch-mathematische und die figural-räumliche Begabung unterteilen. Als nächsten Bereich haben wir die Kreativität, also das Erschaffen von Neuem, gefolgt von einer motorischen Begabung, die sich weiter differenzieren lässt: Sie kann die Kontrolle über den gesamten Körper umfassen, oder sich auf Feinmotorik konzentrieren. Ein weiterer wichtiger Bereich ist die sozial-emotionale Begabung, oft als „soziale oder emotionale Intelligenz“ bezeichnet. Diese umfasst zum einen die Möglichkeit, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und zu kontrollieren, zum anderen die Fähigkeit, die Emotionen der anderen zu erkennen und zu beeinflussen. Eine eigene Kategorie ist oft noch die musikalische Begabung, die in speziellen Tests ermittelt wird.
Lässt sich ein Zusammenhang zwischen Begabungen und Berufsgruppen herstellen?
Definitiv. Wenn man einzelne Begabungsbereiche betrachtet, dann lassen sich auch Berufsgruppen finden, in denen diese Begabungen stärker als andere gefordert sind. Numerisch-mathematische Begabungen lassen sich auf der Ebene des Rechnens mit dem Berufsbild des/der Einzelhandelskaufmanns/frau verknüpfen, auf der Ebene des logischen oder mathematischen Denkens mit Naturwissenschaften oder generell mit dem MINT-Bereich. Hier kommt auch die figural-räumliche Begabung zum Tragen, in der das räumliche Vorstellungsvermögen eine zentrale Rolle spielt. Dieses ist unter anderem im handwerklichen Bereich bzw. in der ganzen Baubranche relevant. Kreativität und sozial-emotionale Begabungen werden nicht nur in einer Berufsgruppe gefordert, sie sind in nahezu allen Berufen relevant.
Fachkräftemangel ist in vielen Wirtschaftsbereichen, auch in Industrie und Gewerbe ein Thema. Welche Talente gilt es hier gezielt zu finden und zu fördern?
Im MINT-Bereich ist es relativ eindeutig, dass Begabungen in den Bereichen numerisch-mathematisch und figural-räumlich im Vordergrund stehen. Wenn man hier Begabungen feststellt – und das gilt selbstverständlich für alle Geschlechter – sollte man über eine Berufswahl in diese Richtung unbedingt nachdenken. Die figural-räumliche Begabung lässt sich ganz gut im Sport erkennen, die numerisch-mathematische, wenn Rechnen Freude bereitet. Das muss übrigens nicht mit der Schulnote einhergehen…
Eine Begabung ist das eine – daraus etwas zu machen das andere. Was können Schule, soziales Umfeld und die Person selbst tun, um eine Begabung auch tatsächlich zu nutzen?
Das ist ein sehr wichtiges Thema. Für den Erfolg, auch im Sinne der Zufriedenheit in der Berufswelt, ist mehr als Begabung nötig. Um das eigene Potenzial auch umzusetzen, ist das Üben und Trainieren eine notwendige Voraussetzung. Während Begabungen im Sinne von Potenzialen von Geburt an weitgehend vorgegeben sind, kann man den persönlichen Einsatz beim Üben und Trainieren selbst beeinflussen. Man kann damit Schwächen kompensieren und Stärken zum Durchbruch verhelfen.
Was das soziale Umfeld, also vor allem Schule und Eltern betrifft, gilt es, angelegte Begabungen auch zu erkennen. Von Seiten der Eltern ist eine gewisse Sensibilität erforderlich, um zu sehen, worin ein Kind gut ist, was ihm Spaß macht. Eltern sollten es ihrem Nachwuchs daher ermöglichen, viele verschiedene Dinge auszuprobieren, damit mögliche Begabungen nicht unentdeckt bleiben. Bei den Lehrpersonen sollte dieses Erkennen und auch das Fördern von Begabungen zum professionellen, alltäglichen Handlungswissen gehören. Schulunterricht ist auch Begabungsförderung in dem Sinne, dass möglichst alle Potenziale gefördert werden.
Welchen Ratschlag können Sie aus Ihrer Erfahrung heraus den Jugendlichen von heute mit auf den Weg geben?
Wir leben in einer Zeit, in der sich die Berufe und Anforderungen immer wieder ändern und neue Berufe entstehen. Deswegen macht es umso mehr Sinn, verschiedene Bereiche auszuprobieren. Auf diesem Weg wird man mehr über seine Begabungen erfahren und vielleicht erkennen, wo und wie man sein eigenes Begabungsprofil erfolgreich einsetzen kann. Zusätzlich sollten Jugendliche in das, was sie gerne tun möchten, auch Arbeit investieren. Hier gehören Fehler und Misserfolge dazu. Allerdings ist es besser, einen Misserfolg zu riskieren als die Chance zu vergeben, den Beruf zu finden, in dem man erfolgreich und glücklich ist.
Roland H. Grabner ist Professor für Begabungsforschung und Leiter des Arbeitsbereichs Educational Neuroscience am Institut für Psychologie der Universität Graz. Neben seiner Forschung zu den neurokognitiven Grundlagen von Begabungsunterschieden und Lernprozessen mit dem Schwerpunkt Mathematik ist er in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrpersonen im deutschsprachigen Raum engagiert.